Hilfe, ich höre Polarität!?

  • Brauche ich jetzt einen Psychiater oder könnt Ihr mich beruhigen?


    Auslöser war eine kleine Sprachbeschallung, wo ich mit minimaler Technik auskommen wollte. Also ohne Effektrack mit Kompressor, Limiter, Deesser usw.. Ich hatte aus einem englischen Buch in Erinnerung, Sprache hätte eine stark unsymmetrische Signalform, und mit einer reinen Phasenverschiebung könnte man deren Crestfaktor etwas verkleinern und so das Clipping etwas herauszögern, ohne viel Klangveränderung. Leider alles ohne nähere Angaben in Zahlen.

    Also habe ich aus der Bastelkiste heraus einen Allpass improvisiert, um an der Phase drehen zu können, ohne den Frequenzgang zu ändern. Dahinter ein Hochpass 200 Hz mit etwas Verstärkung. Die Schaltung lag zwischen dem Funkmikro-Empfänger und einer Maui 11, das war alles.


    Völlig unerwartet gab es einen deutlichen Klangunterschied zwischen mit und ohne Allpass. Ich habe herumprobiert zwischen unverändertem Signal, invertiertem Signal und phasenverschobenem Signal. Einmal war die Sprache lauter, heller und hohler im Klang, bei anderer Einstellung deutlich leiser, tiefer und voller. Stundenlang habe ich den Fehler gesucht , mit einem Zweistrahl-Oszillograph Ein- und Ausgangssignale verglichen und andere Testsignale probiert. Fazit: die Schaltung machte aufs Millivolt genau, was sie sollte. Manche Signale, z.B. Trompete, klingen gleich, andere, unsymmetrische wie eben Sprache (meine und vom Radiowecker), oder auch ein einseitig etwas geclippter Sinus, klingen unterschiedlich.


    Nach und nach habe ich alles aus der Signalkette herausgeworfen und zum Schluss nur noch einen Kopfhörer (K240DF) mit zwei Krokodilklemmen direkt an die Quelle gehängt. Einfaches Vertauschen der beiden Kabel machte nach wie vor einen Klangunterschied, und das sogar noch viel deutlicher als über Lautsprecher.

    Die absolute Polarität des wiedergegebenen Signals beeinflusste also den Sound. Ich weiß nicht, ob die höher, lauter und hohler klingende oder die leisere und tiefere Wiedergabe "richtig" ist. Aber die Phasenverschiebung mit Allpaß 1. Ordnung gab bei Eckfrequenzen zwischen 500 und 1000 Hz den besten Kompromiss.


    Kann das überhaupt sein? Hat schon mal jemand eine einfache Sprachwiedergabe "normal" und "invertiert" verglichen und einen Unterschied wahrgenommen? Bisher dachte ich, Phase und Polarität seien Hifi-Voodoo, jedenfalls in den praktisch vorkommenden Fällen. Jetzt aber :huh:

    -uli


    P.S.: Bitte Geduld mit meinen Antworten, bin nur alle paar Wochen online.

  • ich habe das auch immer so wahrgenommen das invertiertes Signal etwas anders klingt.... hauptsächlich war dafür meine Erklärung das man ja den Impuls etwas verschiebt. Mehr als eine Subjektive Erklärung habe ich dafür aber nicht :)

    dumm sterben kann jeder

  • Hörsinn ist sensitiv bzgl. Phasenverschiebungen, ist aber sehr stark signalabhängig, das haben mehrere Studien über die letzten Jahrzehnte gezeigt. Bzgl. Polaritätswechsel (Speziallfall einer Phasenverschiebung mit Allpass-Charakter) ist man vergleichsweise sehr sensibel. Wir haben vor kurzem mal Hörbarkeit für 90 Grad konstante Phasenverschiebung getestet. Das ist für transiente Signale und tieffrequente Sinusburstsignale mit Training und guten Ohren statistisch abgesichert rauszuhören. Für Musik (wir hatten den Hotel California Unplugged-Klassiker, die Toms am Anfang) war die Phasenverschiebung unhörbar in unserem Experiment.


    Paper und Folien gibt's hier, da sind viele zum Thema passende Studien zitiert:

    http://spatialaudio.net/paper-…or-sound-field-synthesis/


    LG

    Frank Schultz

  • ... und nicht gerade unterm Kopfhörer selbst ins Funkmikro sprechen ;)

    Stimmt, Schall über Knochenleitung im eigenen Kopf und zusätzlich über Kopfhörer würden interferieren. Deswegen hatte ich das Mikro auch auf einen Radiowecker mit Wortbeiträgen gelegt. Die Polarität war trotzdem hörbar. Dabei hätte ich vermutet, dass gerade diese Signale durch eine Menge Prozessoren wie Optimod, Orban etc. gejagt werden, um die Sprache möglichst dicht zu komprimieren. Wie gesagt, hat mich die Sache recht ratlos gemacht.

    "Höher und hohler" klingt nach Auslöschung durch Polaritätsdrehung auf einem Kanal. Das ist aber ein sehr deutlicher Effekt.


    Ich hatte das Setup komplett in Mono, nur ein Kanal und einen Lautsprecher. Der Kopfhörer war auch auf mono geklemmt.


    @j0shiiv: Die zitierten Papers werde ich mal in einer ruhigen Minute gründlich lesen. Die Effekte, die ich hatte, sind vielleicht ähnlich. Aber inzwischen habe ich nachgedacht, warum die Klangunterschiede mir nicht schon immer aufgefallen sind.


    Wenn ich eine konventionelle Mehrwege-Beschallung einstelle, justiere ich die einzelnen Kanäle per Delay auf gleiche Schall-Laufzeit, trenne sie frequenzmäßig mit LR4 Hoch- und Tiefpässen und trimme den Gesamtfrequenzgang mit einigen EQs möglichst flach. Das Ergebnis ist im theoretischen Optimalfall ein Allpassverhalten des Summensignals mit jeweils 360° Phasenverschiebung bei jeder Trennung. Das ist eine sehr viel größere Veränderung des Signals als eine einfache Umpolung. Vielleicht geht der Klangunterschied dabei unter?

    Die Testanlage, die jetzt hatte, war einmal der Kopfhörer, der kein solches Phasenverhalten zeigt, sowie eine Säule mit kleinen Breitbandlautsprechern, deren Trennungen bei 180 und 7000 Hz außerhalb des Frequenzumfangs für Sprache liegen. Ich hatte sie sogar direkt von einer analogen Endstufe angetrieben.


    Mit einem FIR-Filter könnte man auch eine konventionelle Anlage auf konstante Phase justieren, so was ist es wohl, was in j0shiivs Links behandelt wird. Das geht aber nur durch Einführung eines Delays für das Gesamtsignal. Für eine Live-Beschallung ist das nachteilig.


    P.S.: Um Fragen vorweg zu nehmen wegen der Phasenverschiebung der LR4-Summe. Ein Tiefpass 4. Ordnung mit 24 dB/Oktave Flankensteilheit hat im Sperrbereich immer eine Phasenverschiebung von 4x90 = 360 Grad und im Durchlassbereich gar keine. Der zugehörige Hochpass verhält sich exakt spiegelbildlich, so dass die Phasendifferenz zwischen ihnen immer konstant 360° ist (gut so). Ober- und unterhalb der Trennfrequenz überträgt nur ein Zweig mit Phasenverschiebung Null, aber zum Überlappungsbereich tragen beide bei mit einer Phasendifferenz 360 Grad.

    Das ist nicht dasselbe wie Null Grad!!! Klar sieht ein Sinus nach 360 Grad wieder genauso aus wie bei Null, aber die 360 Grad entsprechen einer Zeitverzögerung um eine ganze Periode! Im Überlappungsbereich erfährt das Signal eine Verzögerung, obwohl es immer gleich laut ist. Das kann man als Gruppenlaufzeit messen oder in frequenzabhängige Phasenverschiebung umrechnen.


    Aus demselben Grund ist eine Umpolung auch nicht dasselbe wie eine Phasenverschiebung um 180 Grad. Diese Phase ist eine Zeitverzögerung um eine halbe Periode. Eine Umpolung hat aber keine Zeitverschiebung, sondern ändert nur das Vorzeichen! Es sieht bei einem Sinussignal zwar beides gleich aus, in der Sprung- oder Impulsantwort aber nicht. Ich hatte in meinem ersten Testaufbau alles davon einstellbar, normal, verpolt oder frequenzabhängige Phasenverschiebung zwischen Null und 180°... ich werde mir wohl erst mal einen Blindtest zusammenbasteln müssen.

    -uli


    P.S.: Bitte Geduld mit meinen Antworten, bin nur alle paar Wochen online.