Sicherheitskonzepte in Zeiten des Terrors?

  • Hallo zusammen,


    hier werden zwei Begriffe durcheinander geworfen.


    Das, was wir bei Veranstaltungen vermeiden wollen, ist die Massenpanik. Micha hat recht, wenn er sagt, dass es bei der Loveparade 2010 keine Massenpanik gab - meiner Kenntnis nach gab es in der Nachkriegszeit bei Veranstaltungen in Deutschland noch überhaupt keine Panik. Aber was ist Panik, und was ist einen Massenpanik?


    Panik - die individuelle, die jeder Mensch sicher schon einmal erfunden hat - ist eine körperliche Reaktion auf eine vermutete oder tatsächliche Gefahr. Sie ist durch eine starke, sehr rasche Ausschüttung von Stresshormonen gekennzeichnet, die den Körper auf Kampf oder Flucht vorbereiten. Durch diese Ausschüttung von Stresshormonen wird aber unter auch anderem auch die Funktion des präfrontalen Cortex, also des Bereiches im Gehirn, mit dem wir reflektieren und planen, eingeschränkt. Reaktionen auf die Gefahr erfolgen dadurch nur noch aus dem limbischen System, schlimmstenfalls aus noch älteren Hirnteilen heraus und führen zu dem bekannten „Fight, Flight or Freeze“ - das sind die drei einzigen Reaktionen, zu denen ein Mensch in Panik überhaupt fähig ist. So lange man übrigens noch etwas bewusst empfindet, ist es noch keine Panik: das ist dann eine starke Angst, oft verbunden mit großer Panikbereitschaft.


    Massenpanik ist die Verhaltensansteckung dieses Panikverhaltens in einer akuten Masse. Dazu müssen wir erst mal ein bisschen in die Soziologie gehen und schauen, in welchen „Verpackungsgrößen“ Menschen auftreten und wie das ihr Verhalten beeinflusst. Was uns da so interessiert sind - in aufsteigender Reihenfolge - Individuum, Dyade, Triade, Gruppe und Menschenmenge. Der Unterschied zwischen Gruppe und Menschenmenge ist dabei der wesentliche Punkt: verkürzt gesagt ist eine Gruppe die Anzahl Menschen, in der unser Gehirn noch die anderen als Individuen wahrnimmt und die auf Grund der prosozialen Wirkung der Gruppe zu einem gruppenkonformeren, sozialen (weil im Regelfall der Gruppe nützlichen) Verhalten des Individuums führt.


    Das ganze kippt, wenn unser Gehirn die anderen nicht mehr simultan als Individuen wahrnehmen kann, je nach Person so bei 50, 60 oder 70 Person - Fluch unserer evolutionären Entwicklung in ebensolchen Gruppen von Äffchen in der afrikanischen Steppe...


    Menschen in der da so genannten Menge verhalten sich im Schnitt deutlich anders als in einer Gruppe: da sie dann (unterbewusst) wahrnehmen, dass auch die anderen sie nicht mehr als Individuum wahrnehmen, verhalten sie sich im Schnitt deutlich unsozialer als als Individuen oder in der Gruppe: das Ganze heißt dann „Verantwortungsdiffusion in der Menge“ und führt zu so unangenehmen Ergebnissen wie dem Bystander-Effekt und pluralistischer Ignoranz.


    Die Menschenmenge also solche ist jetzt noch nicht so fürchterlich spannend, da in ihr die Menschen erst mal weiter ihren individuellen Zielen folgen und jeder munter in der Brown‘schen Teilchenbewegung der Gesellschaft vor sich hinbrummt. Das ändert sich in dem Moment, in dem die Aufmerksamkeit aller Individuen in der Menge auf einen bestimmten Umstand, ein Ereignis ausgerichtet wird: dann kippt die Menge nämlich um in eine sogenannte akute Menschenmasse um. Man spricht auch von der Vermassung der Menge, und, wie der lange schon nicht mehr unwidersprochene Gustave Le Bon in seiner „Psychologie der Massen“ behauptet hat, scheint sich diese Masse als Ganzes wie ein sehr großes, aber auch sehr dummes und triebgesteuertes Tier zu verhalten.


    Grund dafür ist die sogenannte „Verhaltensansteckung in der Masse“: Wenn ich Teil einer solchen Menschenmasse bin, gebe ich einen Teil meines Egos zugunsten der Masse auf, dies nennt man „Deindividuation in der Masse“. Manche von uns kennen das und suchen das freiwillig: bei großen Konzerten, wenn der Künstler „Jump, Jump!“ ruft und der links von mir jumpt und der rechts von mir jumpt, jumpe ich auch. Käme mir nie in den Sinn, wenn ich alleine am Freitagnachmittag in der Fußgängerzone stände und jemand anderes „Jump, Jump!“ riefe.


    Diese Deindividuation wird übrigens auch schon immer von anderen für sinistre Zwecke missbraucht. Wenn ich in der (sehr homogenen) Menschenmasse stehe und vorne brüllt einer „Wollt Ihr den totalen Krieg“, brüllen alle Ja. Wären sie allein und das Hirn an, würden sie eher merken, dass die Idee eigentlich keine gute ist.


    Und jetzt kombinieren wir die natürliche, individuelle Panikreaktion des einzelnen mit der Fähigkeit zu Verhaltensansteckung in der akuten Menschenmasse und haben dann Dutzende, Hunderte oder Tausende, bei denen sich die „Fight, Flight or Freeze“-Reaktion in Sekundenbruchteilen fortpflanzt: Das ist Massenpanik, und die führt dazu, dass Eltern ihre Kinder tottrampeln.


    Ich stehe dazu, in Deutschland hatten wir solches in der Nachkriegszeit noch nicht - andere Länder waren da deutlich weniger glücklich - schlimmstes Beispiel hierzu zum Beispiel Mekka...


    Die Entstehung einer solchen Massenpanik lässt sich aber mit Kenntnis der Psychologie des Einzelnen und der Menge relativ leicht vermeiden; kurz gesagt braucht man vor allem Platz, Licht und Informationen...


    Mit freundlichen Grüßen Tobias Zw.

  • Danke Tobias. Da heb ich wohl in meinem Leichtsinn tatsächlich etwas durcheinander geworden. Aber man ist ja bekanntlich nie zu spät, um etwas neues dazuzulernen.


    Das ändert sich in dem Moment, in dem die Aufmerksamkeit aller Individuen in der Menge auf einen bestimmten Umstand, ein Ereignis ausgerichtet wird: dann kippt die Menge nämlich um in eine sogenannte akute Menschenmasse um. Man spricht auch von der Vermassung der Menge, und, wie der lange schon nicht mehr unwidersprochene Gustave Le Bon in seiner „Psychologie der Massen“ behauptet hat, scheint sich diese Masse als Ganzes wie ein sehr großes, aber auch sehr dummes und triebgesteuertes Tier zu verhalten.

    Das meinte ich dann wohl mit meiner Anekdote. Vielleicht doch lieber erst einmal informieren, bevor man so etwas rauspossaunt. Shame on me XD

    Durch die Leidenschaften lebt der Mensch, durch die Vernunft existiert er bloß.

  • Es fühlt sich falsch an, für diesen Beitrag ein "Like" zu geben, weil es sich um eine so tragische Sache handelt. Aber du triffst den Punkt total. All die Coronaleugner, die jetzt heldenhaft sagen, dass sie freiwillig auf ein Bett in der Intensivstation verzichten würden und auch den Tod in Kauf nehmen, werde ihre Meinung fundamental ändern, wenn sie einmal erleben, wie sich Atemnot wirklich anfühlt.

    Das ist so wie:


    Zitat

    Ich will keine hundert werden

    Hört man in der Tat nie von 99 jährigen.

    Practice, Practice, Practice

  • Und jetzt kombinieren wir die natürliche, individuelle Panikreaktion des einzelnen mit der Fähigkeit zu Verhaltensansteckung in der akuten Menschenmasse und haben dann Dutzende, Hunderte oder Tausende, bei denen sich die „Fight, Flight or Freeze“-Reaktion in Sekundenbruchteilen fortpflanzt: Das ist Massenpanik, und die führt dazu, dass Eltern ihre Kinder tottrampeln.


    Ich stehe dazu, in Deutschland hatten wir solches in der Nachkriegszeit noch nicht - andere Länder waren da deutlich weniger glücklich - schlimmstes Beispiel hierzu zum Beispiel Mekka...

    Es braucht nicht immer eine flüchtende Gesamtmenge. Es reicht, dass Personen in der Menge sich entweder mehr Platz verschaffen wollen, zu einem vermeintlichen Ausweg streben oder einfach nur verzweifelt versuchen bei den wellenartigen Kollektivstürzen auf den Beinen zu bleiben. Und das führt dann in letzter Konsequenz dazu, dass Personen entweder an Engstellen hängen bleiben oder stolpern und stürzen und daraufhin überrannt werden. Genau das ist bei der Loveparade 2010 passiert. Wie soll man das also bezeichnen?

  • Genau das ist bei der Loveparade 2010 passiert. Wie soll man das also bezeichnen?

    Bei der LoPa 2020 gab es nachweislich keine Verhaltensansteckung mit Panik.


    Was wir dort hatten, war eine absolute Überfüllung mit zu hohen Personendichten, und natürlich reagierten die Menschen, die zu Tode gedrückt wurden, panisch: das ist, wie gesagt, die natürliche körperliche Reaktion auf Gefahr.


    Aber: da wurden Menschen zu Tode gequetscht, während wenige Meter weiter andere fröhlich feierten und nichts davon mitbekamen.


    Deswegen ist es so wichtig, dass wir zwischen individueller Panik und Massenpanik unterscheiden, und die letztere gab es definitiv als Phänomen dort nicht.


    Das macht es nicht weniger tragisch, gibt uns aber Ansätze, wie vergleichbare Situationen verhindert werden können. Gegen Massenpanik brauche ich teilweise andere Maßnahmen als gegen zu hohen Personendruck. Hoher Personendruck ist zwar ein panikbegünstigender Umstand (und gefährlich), aber noch nicht das Phänomen Panik an sich.


    Beispiele für Massenpanik, zum Anschauen:

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    - Public Viewing in Turin, dort ist die Verhaltensansteckung in der Masse beobachtbar

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    - Hillsborough

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    - Paris 2015


    Beobachte, wie das kopflose Fluchtverhalten sich auch auf die überträgt, die den eigentlichen Auslöser nicht wahrnehmen konnten: das ist Massenpanik.


    Beste Grüße Tobias Zw.

  • Deswegen ist es so wichtig, dass wir zwischen individueller Panik und Massenpanik unterscheiden, und die letztere gab es definitiv als Phänomen dort nicht.


    Das macht es nicht weniger tragisch...


    Gegen eine Massenpanik ist man als Verantwortlicher für die Sicherheit einer Menschenansammlung nie wirklich gefeit. Man kann sich viele Gedanken machen, sich um viele Aspekte kümmern, und dann passiert etwas, was man nicht auf dem Schirm hatte oder gleich gar nicht beeinflussen kann.


    Wenn es durch eine solche Massenpanik dann zu hohen Personendruck kommt, ist man als Verantwortlicher auch machtlos. Wenn plötzlich (Beispiel) eine komplette Halle zu einem einzigen Ausgang drängt und da raus will, dagegen kommt man weder mit Durchsagen noch mit Security an.


    In Duisburg hatten wir jedoch die umgekehrte Situation: Nicht Massenpanik führte zu einem hohen Personendruck, sondern zu hoher Personendruck führt zu (individueller) Panik (wobei die dann auch noch irrelevant war: Wenn ein Mensch nicht mehr individuell handeln kann, weil er gerade zusammen gepresst wird, wird sein "Gemütszustand" unerheblich).


    Wir haben hier klare Planungsfehler: Auf der Rampe hatte man planerisch rund 18 m, wegen einer Verengung tatsächlich nur rund 10 m, gebraucht hätte man (je nach "Mut" des Planers und Funktionsfähigkeit des Crowd Managements zwischen 80 m und 120 m). Bei den Einlass-Schleusen hatte man planerische Brutto-Abfertigungszeiten von unter 1,5 Sekunden, die Anzahl der Schleusen hätte man also verzehfachen sollen.


    Nichts davon hat mit "Psychlogie der Massen" zu tun. Alles Physik / Mathematik.

    Bitte keine fachlichen Fragen per PM - Inhaber von dBmess

  • nachweislich

    Ich bitte darum. ;)


    Beobachte, wie das kopflose Fluchtverhalten sich auch auf die überträgt, die den eigentlichen Auslöser nicht wahrnehmen konnten: das ist Massenpanik.

    Ich verstehe zwar, was du meinst, die Abgrenzung ist aber in meinen Augen nicht sinnvoll. Was deine Beispiele von den Ereignissen in Duisburg unterscheidet, ist die Synchronisation und die Bewegungsfreiheit. Laute Geräusche unbekannter Herkunft, Explosionen oder ein sich schnell ausbreitender Brand sorgen schlagartig für eine allgemeine Verunsicherung. Daher können sich Fluchtbewegungen auch rasch in der Menge fortpflanzen. Das funktioniert allerdings auch nur, wenn genügen Raum für eine Flucht vorhanden ist und die Flucht als solche überhaupt wahrgenommen werden kann.

    Dass es in Duisburg zu keiner kollektiven Fluchtbewegung gekommen ist, kann ich mir auf Grund der vorliegenden Informationen nicht vorstellen. Die Bilder zeigen massive Inhomogenitäten in der Personenverteilung und einen Drang zu den drei aus der Menge erkennbaren Fluchtwege. Die örtliche Verteilung der zu Schaden gekommen Personen ist auf (vermeintliche) Fluchtpunkte konzentriert. Genau wie in deinen Beispielen spricht auch in Duisburg vieles für einen selbstverstärkender Effekt. Der einzige Unterschied ist, dass es nicht zu einer synchronisierten und vollständigen Panik kam. Ist der Anteil der Fliehenden für den Begriff Massenpanik wichtig?

    In Duisburg hatten wir jedoch die umgekehrte Situation: Nicht Massenpanik führte zu einem hohen Personendruck, sondern zu hoher Personendruck führt zu (individueller) Panik (wobei die dann auch noch irrelevant war: Wenn ein Mensch nicht mehr individuell handeln kann, weil er gerade zusammen gepresst wird, wird sein "Gemütszustand" unerheblich).


    Wir haben hier klare Planungsfehler: Auf der Rampe hatte man planerisch rund 18 m, wegen einer Verengung tatsächlich nur rund 10 m, gebraucht hätte man (je nach "Mut" des Planers und Funktionsfähigkeit des Crowd Managements zwischen 80 m und 120 m). Bei den Einlass-Schleusen hatte man planerische Brutto-Abfertigungszeiten von unter 1,5 Sekunden, die Anzahl der Schleusen hätte man also verzehfachen sollen.


    Nichts davon hat mit "Psychlogie der Massen" zu tun. Alles Physik / Mathematik.

    Ich denke, es steht nicht zur Debatte, dass hier in erster Linie Fehler bei Planung und Ausführung ursächlich waren. Aber es ist aber letztlich eine Verkettung von Ereignissen (und Fehlern), die zu solchen Ergebnissen führt. Den restlichen Dingen weniger Bedeutung beizumessen, weil man einen wichtigen Faktor bereits identifiziert hat, ist nicht sinnvoll.

  • Ich bitte darum. ;)


    Ich verstehe zwar, was du meinst, die Abgrenzung ist aber in meinen Augen nicht sinnvoll.

    Nichts leichter als das, sprach der Bär...


    Die Abgrenzung habe ja nicht ich mir ausgedacht, das kommt durchaus aus der Psychologie. Ich mach's mir jetzt mal leicht und zitiere - wissenschaftlich nicht ganz sauber - Dr. Künzer und Kollegen, die zu diesem Thema viel lesenswertes geschrieben haben:



    Mit besten Grüßen Tobias Zw.

    - nach dem 8. Semester Psychologie und Soziologie zwangsexmatrikuliert worden, da die Karriere im Rock'n'Roll vorging -