Eine in den einschlaegigen Foren haeufig diskutierte Frage ist die nach dem bestklingenden ‚x’ Zoll Kompressionstreiber. Der Tenor dieser Diskussionen ist stets der, dass die charakteristischen Nichtlinearitaeten eines Treibers den qualitativen Klangeindruck direkt beeinflussen, ergo ein Treiber mit geringen charakteristischen Verzerrungen de facto ‚besser klingt’. Untersuchungen zeigen, dass diese Einschaetzung statistisch nicht haltbar ist.
In dem Artikel Geddes, Lee & Magalotti (2005); „Subjective testing of compression drivers“, J. Audio Eng. Soc. 53/12 1152-1157 untersuchen die Autoren den Einfluss der linearen und nichtlinearen Verzerrungen (i.e. des Frequenzganges und des Verzerrungsverhaltens) auf die empfundene Klangqualitaet. Das AX Doppelblindexperiment kann folgendermaszen zusammengefasst werden:
- untersucht werden 3 unterschiedliche 2“ Kompressionstreiber (Titaniumkalotten mit 100mm Schwingspule, nominell 8 Ohm Impedanz, 5 fach geschlitzter Phaseplug, NdFeB Magnetantrieb)
- um die Untersuchung auf die charakteristischen Eigenschaften der Treiber zu beschraenken wird ein reflektionsfreies Impedanzrohr als Last verwendet (im Gegensatz zu einem Horn konstante akustische Impedanz am Treibermund)
- der massenbedingte Frequenzgangabfall der 3 Treiber wird mittels eines +6dB Filter korrigiert (fuer alle Treiber gleich)
- die entstehende Laufzeitverzoegerung durch Wellenleitung von der Membran zum Treibermund wird korrigiert (fuer alle Treiber gleich)
- eine monophone Musiksequenz wird digital hoch- und tiefpassgefiltert (3. Ord. BW 800Hz)
- das hochpassgefilterte Signal wird ueber jeden der 3 Kompressionstreiber wiedergegeben und mittels eines ¼“ Mikrophones direkt am Treibermund aufgezeichnet
- die Aufzeichnung fuer jeden Treiber erfolgt in 3 Schallpegelstufen (nominell 14V, 20V und 28V, i.e. 24.5W, 50W und 72W)
- die aufgezeichneten hochpassgefilterten Signale werden normalisiert, sodass die Summe aus Tief- und Hochpassignal stets die gleiche Leistungsverteilung wie das Originalsignal hat
- die monophone Wiedergabe erfolgt mittels Kopfhoerer geringer Verzerrung und linearen Frequenzganges
Es stehen 3 x 3 verschiedene Varianten der Musiksequenz zum Vergleich – 3 verschiedene Treiber (zu unterscheiden mittels ihrer linearen Charakteristik) und 3 verschiedene Schallpegelstufen, welche die unterschiedlichen nichtlinearen Verzerrungen bei steigender Eingangsleistung als auch die grundsaetzlichen nichtlinearen Charakteristiken der jeweiligen Treiber einschliessen. Die Hoerer vergleichen stets das Original X mit der bearbeiteten Version A und beurteilen die Groesse des subjektiven Unterschiedes.
Es ergeben sich folgende Schlussfolgerungen aus dem Experiment:
- es sind statistisch signifikante Unterschiede zwischen den einzelnen Treibern auszumachen, aber keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Schallpegelstufen der Treiber (bei gleichen Schallpegeln im Ohr lassen sich keine qualitativen Unterschiede fuer die unterschiedlichen Eingangsleistungen / nichtlinearen Verzerrungen der einzelnen Treiber feststellen)
- Unterscheidung zwischen den Treibern erfolgt demnach ueber die unterschiedlichen charkteristischen linearen Verzerrungen (Frequenzgang) und nicht ueber die charakteristischen oder eingangsleistungsbedingten nichtlinearen Verzerrungen
Fuer die Praxis bedeutet dies (nach meiner Lesart) folgendes:
- subjektive Klangunterschiede, welche eindeutig auf nichtlineare Verzerrungen zurueckgefuehrt werden koennen, entstehen ausschliesslich waehrend der Wellenleitung im Horn und in der Luft. Diese Experimente setzen voraus, dass die linearen Verzerrungen (Frequenzgang) der untersuchten Systeme am Hoerort absolut identisch sind.
- Geddes et al. zeigen, dass fuer identische Hoerner und Hoerabstaende allein die Korrektur der linearen Verzerrungen (Frequenzgang) zu subjektiven Klangunterschieden fuehren werden (technisch vergleichbare Treiber vorausgesetzt). Ergo, die genaue Korrektur des Frequenzganges ist statistisch gesichert relevant fuer die Klangqualitaet; die charakteristischen nichtlinearen Verzerrungen des Treibers sind es nicht.
- Verbesserungen der Klangqualitaet sind demnach nur zu erreichen, wenn Hoerner mit geringeren nichtlinearen Verzerrungen eingesetzt werden, und der Frequenzgang genauer korrigiert wird (beide Themen spielen in den Diskussionsforen nur eine untergeordnete Rolle, hier regiert das Substitutionsprinzip hin zum ‚besseren’ Treiber). Weiterhin ist die Reduktion des Hoerabstandes das effektiveste Mittel, klanglich relevante Verzerrungen zu reduzieren, da bei steigendem Schalldruck am Hornhals der Verzerrungsanteil durch Wellenausbreitung in der Luft den resultierend aus dem Treiber und dem Horn bei weitem uebersteigt.
Warum sind fuer 2 vergleichbare, technisch hochwertige Treiber doch deutliche Unterschiede feststellbar? Die linearen Verzerrungen jedes einzelnen Treibers sind speziell im Hochtonbereich derart charakteristisch, dass auch bei ‚gemess-fuehlt’ vergleichbaren Frequenzgaengen deutliche Unterschiede hoerbar werden. Da die linearen Unterschiede mangels sorgfaeltiger Messungen verborgen bleiben, werden die Phaenomene den nichtlinearen Verzerrungen zugeordnet.
Warum ‚verzerrt’ eine Treiber-Horn-Kombination deutlich staerker, wenn die Eingangsleistung angehoben wird? Diese offensichtliche Beobachtung der Praxis widerspricht Geddes et al.! Hier spielen die nichtlinearen Vorgaenge innerhalb des Gehoers selbst die entscheidende Rolle. Nichtlineares frequenzvariables Lautheitsempfinden, steigende Bandbreite der Cochleafilter, ansteigende lautheitsbedingte Maskierung hoher Frequenzen, etc. rufen diese Effekte hervor. Ein individuell angepasster Gehoerschutz mit einem linearen Filter sorgt fuer deutliche Verbesserung der subjektiven Klangqualitaet, obwohl die mechanisch-akustische Uebertragung, i.e. der Schalldruckpegel und die daran gekopplten Nichtlinearitaeten unveraendert bleiben. Oder: leiser klingt leichter besser!
Effekte wie Partialschwingungen der Membran, Nichtlinearitaeten des Antriebes oder Intermodulationsverzerrungen durch zu tiefe Trennung oder zu hohe Auslenkung sorgen fuer deutliche Minderung der subjektiven Klangqualitaet! Geddes et al. zeigt anschaulich, dass die charakteristischen Nichtlinearitaeten unterschiedlicher aber vergleichbarer Treiber unter identischen Einsatzbedingungen keinen Einfluss auf das subjektive Klangempfinden haben. Es kann demnach nicht ‚den’ Treiber geben, der deutlich tiefer als alle anderen getrennt oder spuerbar staerker ausgelenkt werden kann, ohne dass deutliche Klangveraenderungen hoerbar werden, solange die Konstruktionsprinzipien und Materialien nicht entsprechend verbessert wurden. Ergo, die Einsatzbedingungen, allen voran die Auslenkung, sind die entscheidenden Kriterien fuer den Entwurf der Klangcharakteristik (wird in den Foren stets prominent ignoriert, obwohl einige Protagonisten sich redlich bemuehen, dies verstaendlich zu machen).
Gruesse: Sven
P.S. Roberto Magalotti ist seit 2001 der verantwortliche Entwicklungsingenieur bei B&C Florenz. Die oben genannte Studie aussert deutliche Ueberraschung ob der Feststellung, dass der Weg zu 'besserem' Klang eben nicht ueber verzerrungsaermere Kompressionstreiber fuehrt. Die Zeiten des stumpfen Aufruestens sind lange vorbei; Planung, Messung, Analyse und Korrektur muessen absolut selbstverstaendliche Werkzeuge werden. Anderenfalls verharren Amateure und Kleinentwickler ewig auf dem technischen Niveau von vor 1975 (und auf diesem Niveau bewegen sich 99% der Diskussionen in den einschlaegigen Foren).