Variable D, ein lebendes Fossil, ein vergessenes Prinzip für „Beschallungsmikrofonie“ ?
Zunächst ein kleiner Einblick in das Funktionsprinzip:
Gradientenempfänger, egal ob dynamischer Wandler oder Kondensatorwandler haben grundsätzlich das Problem, dass der Gangunterschied zwischen Membranvorder- und Rückseite, der den eigentlichen Antrieb darstellt, bei niedrigen Frequenzen winzig im Verhältnis zur Wellenlänge ist und die mögliche Antriebskraft über den Gradienten damit zu tiefen Frequenzen hin immer kleiner wird. Man spricht von der Bassschwäche der Gradientenempfänger. Dieses Problem wird in der Regel ( es gibt noch andere Kompensationen, auf die ich hier nicht näher eingehen will ) durch Dämpfung von Mitten ausgeglichen. Das Maß dieser Mittendämpfung und der kleiner werdende Gradient tragen erheblich zu einer mit sinkender Entfernung in Betrag und Frequenz zunehmenden Anhebung des unteren Frequenzspektrums, dem sog. Naheits- oder Nahbesprechungseffekts bei und führt oben zur relativen Präsenzanhebung quasi als Abfallprodukt.
Variable D geht hier einen anderen Weg:
Das Prinzip gibt über eine Art akustische Frequenzweiche ( vor allem durch Bedämpfung hoher Frequenzen auf dem längeren Weg mittels absorbierender Materialien in diesem Weg ) tiefen Frequenzen über einen längeren Port im Schaft des Mikrofons eine größere Weglänge zur Rückseite der Membran und so einen größeren Gradienten. Damit wird im Bassbereich ein größerer Anteil des Antriebs über den Gradienten erzeugt und das System braucht weniger Mittendämpfung.
Das führt 1 . zu einem reduzierten ( nicht eliminierten ! ) Nahheitseffekt und 2. ( was viele nicht wissen ! ) zu einer bis zu tiefen Frequenzen gut eingehaltenen Richtcharakteristik, da die Qualität der Richtcharakteristik ebenfalls vom Gradienten bestimmt wird.
Ein solches, speziell in der Nahmikrofonie relativ „lineares“ dynamisches Mikrofon mit reduzierten Nahheitseffekt und fehlender typischer Präsenzanhebung war leider in den Siebzigern und frühen Achtzigern als „PA-Anlagen“ dringend ein Mikrofon mit „Badewannenfrequenzgang“ aus Nahheitseffekt und Präsenzanhebung brauchten, um den Speakersystemeigenen, plärrend mittigen output auszugleichen, eher nicht so en vogue. Da war ein SM57 klar im Vorteil und wer damals die Wahl hatte, z.B. mit dem fünfstufigen Bassabsenker und dem Präsenzschalter des MD441, machte die Präsenz eher rein und ließ die Bässe drin. Das war die Zeit als das 57, der Badewannenklassiker „Standard“ wurde.
Verständlich zwar, dass in einer Zeit, als Bässe in Beschallungsanlagen noch keine wesentliche Rolle spielten, der Nahbesprechungseffekt manche „Sprachsäule“ etwas ansprechender klingen ließ und die ersten Rock n’Roll-PAs wie die mittigen Voice Of The Theater , JBL 4560 + 2345 oder Martin Rasierer der 70er Jahre ein lineares Mikrofon auch nicht gerade brauchten. Die Ausstattung der damaligen Mischpulte mit EQ war spartanisch, an 4 – 6 vollparametrische Bänder pro Kanal, wie wir sie von modernen Digitalpulten kennen war noch überhaupt nicht zu denken. Das „Beinahe-Aussterben“ der Gattung Variable D liegt jedoch eher in falscher Firmenpolitik, möglicherweise dem mehrfachen Eigentümerwechsel der Marke und in einem unzureichenden Verständnis dafür, dass für heutige Beschallungssituationen durch Variable D auch neue Möglichkeiten entstehen. Sicher hat auch beigetragen, dass das angedachte Hauptaufgabengebiet für Variable D, die Sprechermikrofonie im Rundfunk , weitgehend von Kondensatormikrofonen übernommen wurde.
Hier eine kurze historische Übersicht über die verschiedenen, meines Erachtens gut live einsetzbaren Modelle:
Bilder und data sheets gibt’s unter http://www.coutant.org
666 Die Urmutter der Variable D Mikrofone mit den drei erkennbar unterschiedlichen Wegen zur Rückseite der Membran..
660 Vorgänger des weitgehend baugleichen PL6 der proline Serie schon mit continuous Variable D
RE15 das linearste Mikro dieser Klasse
RE10 in nahezu identischem Design wie RE15 aber nach oben und unten etwas eingeschränkterem nutzbaren Frequenzgang ( die mittigere Ausführung )
RE 11 und das weitgehend baugleiche PL11 als Modell mit eingebauten Sprechkorb und Popschutz.
RE 20 und das baugleiche PL 20, die heute noch gebauten Vertreter mit ein bisschen Badewanne.
PL10, das zur Verwirrung in der Nomenklatur keine PL Version des RE10 ist, sondern ein eigenständiges Design, eher eine Art Baby-PL20.
RE 27 das letzte neue Modell vor ~ 20 Jahren mit Neodym Magnet und Präsenzanhebung das an den Erfolg des RE 20 nicht mehr anknüpfen konnte aber noch gebaut wird.
Heutige Anwendungsgebiete:
1. Der Benefit des Nahheitseffekts, also der Umstand, dass der durch ihn entstehende Pegelzuwachs von der Schleifenverstärkung nicht ‚gesehen‘ wird und daher nicht zu akustischen Rückkopplungen beiträgt, gilt nicht für Quellen, die selbst im Frequenzbereich des Nahheitseffekts ein Resonanzphänomen aufweisen z.B. akustische Gitarre, Flügel, Klavier. Jeder kennt das Problem des tieffrequenten Aufschwingens. Genau hier hat das Variable D Prinzip Vorteile. Vor allem im Zusammenhang mit heutigen gut richtungskontrollierten Vertikal-Arrays lassen sich verblüffende Nutzpegel vor Feedback erzielen.
2. Der Anteil des Membranantriebs durch den Gradienten und damit die Voraussetzung für die Richtcharakteristik bleibt durch die Verlängerung des Gangunterschieds für tiefe Frequenzen erhalten. Gerade Anwender, die das Mikrofonsignal als Rohmaterial für eine intensive EQ-Bearbeitung sehen, sind heute mit einem solchen Mikrofon sicher besser bedient. Die bis zu tiefen Frequenzen sehr gut eingehaltene Nierencharakteristik ist ja geradezu die Voraussetzung für den rückkopplungs- und übersprechungsarmen Einsatz von Kanal-EQ. Ein Mikrofon, das in Nahmikrofonie-Situationen, aus denen die Beschallerei nun mal zu 98% besteht, linearer bleibt, als übliche Ein(Rück)weg-Gradientenempfänger wäre eigentlich ja geradezu die Grundvoraussetzung für ein wunschgemäßes EQen ?
Meine Message:
Man sollte einfach unter den heutigen veränderten Bedingungen also 1. lineareren und sehr viel besser richtungskontrollierten Lautsprechersystemen und 2. nahezu unbegrenzter Verfügbarkeit von EQ die Anwendungen von Continuous Variable D Mikrofonen als „nahmikrofonielinearisiertes Prinzip“ für Beschallung neu ausprobieren. Ich meine, da gibt es sowohl klanglich als auch hinsichtlich Übersprechen und Rückkopplung einiges zu experimentieren. Ich selbst habe diese Mikros für mich auf jeden Fall "wiederentdeckt" und im letzten Jahr interessante Ergebnisse erzielt.
Viel Spaß bei der Jagd auf die alten Modelle. :wink: